Ich werde wach, sortiere meine vom letzten Traum noch verworrenen Gedanken, komme langsam in der Wirklichkeit des neuen Tages an – und will zum Smartphone greifen. Ich will sehen, ob es irgendetwas Neues gibt, das wichtiger ist, als in Ruhe wach zu werden. Doch heute entscheide ich mich dagegen. Heute will ich es bewusst langsam angehen lassen.
Ich ziehe den Arm, der schon fast beim Smartphone angekommen ist, wieder zurück unter die warme Decke und rolle mich noch einmal genüsslich mit angezogenen Armen und Beinen wie ein Embryo im Mutterleib zusammen. Den Kopf halb unter der Decke versteckt, gebe ich mich der wohligen Wärme hin. Ich hole meine Aufmerksamkeit immer wieder von den Gedanken an anstehende Aufgaben, Emails und Facebook zurück und wende sie diesem Moment zu, in dem einfach alles perfekt ist.
Ruhe, Stille, Geborgenheit.
Mein Verstand will sich immer wieder mit ungeheuer Wichtigem beschäftigen, das scheinbar keinerlei Aufschub gewährt. Er will grübeln, nachdenken und mich mit allerlei Sorgen in Beschlag nehmen.
Doch heute Morgen spiele ich nicht mit. Auch wenn es verdammt schwer ist, weil seine Überredungskünste meisterhaft sind und seine Argumente mehr als verführerisch, mich mit etwas zu befassen, das außerhalb dieses Moments liegt. Doch ich beobachte ihn nun schon lange genug, um zu wissen, dass die Verheißungen, die er mir macht, nichts als Lug und Trug sind.
Es ist nicht leicht, sich dauerhaft dem gegenwärtigen Moment zuzuwenden. Immer wieder will uns unser Verstand ablenken, in die Zukunft oder die Vergangenheit zerren, damit wir uns mit allem anderen beschäftigen außer dem, was sich gerade vor uns befindet.
Doch meine Motivation sowie meine Neugier, ihm nicht nachzugeben und zu beobachten, was sich stattdessen vor und in mir entfaltet, sind heute Morgen besonders groß. Und so tauche ich ein in dieses Wunderland des Alltäglichen.
Ich schlage meine Augen erneut auf und schaue mir meine Umgebung dieses Mal mit dem offenen, neugierigen und unvoreingenommenen Blick eines Kindes an. Ich liege da und schaue einfach nur, sehe mir Altbekanntes und Immerdagewesenes an und lasse es ohne jedes Urteil auf mich wirken.
Neben meinem Bett steht eine Tasse. Sie ist blau mit vielen kleinen, naturweißen Tupfen, handbemalt und wurde mir von einer lieben Freundin geschenkt. Ich mag diese Tasse, trinke meinen Tee sehr gerne aus ihr und erfreue mich immer wieder an ihrer Erscheinung. Doch so wie heute habe ich sie noch nie wahrgenommen. Sie steht da im Dämmerlicht und strahlt. Sie strahlt mich an. Und ich erfreue mich sehr an diesem wunderschönen Anblick, den das Leben einzig und alleine mir geschenkt hat.
Es ist nur eine Tasse, eine banale Tasse. Und doch hat sie mir heute die Augen für die Schönheit und den Zauber des Alltäglichen geöffnet. Das, was ich da sehen durfte, die Magie, die ich erfahren habe, lässt sich nicht in Worte fassen. Es wäre, als wollte man jemandem das Wasser beschreiben, der noch nie in seinem Leben nass war. Es ist unmöglich.
Und doch möchte ich versuchen, das Unbeschreibliche in Worte zu fassen.
Alles im Leben ist schön, absolut alles. In jedem Gegenstand, in jedem Menschen und in jeder Situation können wir etwas entdecken, dass unsere Augen und unser Herz erfreut. Doch wir sehen es nur, wenn wir uns innerlich auf diese Ebene des Seins ausrichten.
Denn mit dem Zauber des Alltäglichen und Gewöhnlichen ist es so wie mit einem scheuen Tier. Es zeigt sich nicht jedem und erst recht nicht den Lauten und Unachtsamen. Man muss behutsam sein, aufmerksam, still und leise und wahrscheinlich sogar ein bisschen langsamer als sonst. Dann kann man, mit etwas Glück, die Magie des uns Umgebenden erhaschen.
Sie ist schreckhaft und flüchtig, passen wir einen Moment nicht auf, entschwindet sie uns schon. Doch sie ist auch nachsichtig und verzeiht uns unsere Ungeduld schnell. Denn kaum haben wir uns wieder auf sie eingestellt, ist sie bereit, uns erneut Einlass in ihr Reich zu gewähren.
Langsamkeit ist tatsächlich ein günstiges Einstiegstor in diese Welt der Wunder. Langsamkeit gepaart mit Aufmerksamkeit und Neugier.
Als ich nach dem Aufstehen mein Fenster öffne, tue ich es heute nicht so schnell und unaufmerksam wie sonst, um schnell zur nächsten Handlung überzugehen. Ich lege meine Hand an den Griff, bewege ihn in einer viertel Umdrehung nach oben und lausche dem vertrauten Geräusch, mit dem sich die beiden Fensterflügel voneinander lösen.
Und dann, viel langsamer als sonst, wenn auch nicht in Zeitlupe, lasse ich die Geräusche der Straße in mein Zimmer fließen. Vielleicht dauert dieser Moment nur eine Sekunde. Und doch kann ich deutlich wahrnehmen, wie sich die Geräusche der Außenwelt langsam in mein Zimmer ergießen. Es ist, als würde sich ein Klecks Tinte allmählich in einem Glas Wasser ausdehnen, um es letztlich vollständig blau zu färben. Der Moment des Einströmens und Ausdehnens dauert nicht lange. Und doch ist es ein Spektakel, dessen Anblick uns in Staunen versetzen kann.
Es ist die Schönheit des Kleinen, des Einfachen und so leicht zu Übersehenden. Sie ist nicht minder bezaubernd und bewegend als die Werke Botticellis oder Beethovens. Doch wie auch bei letzteren liegt die Schönheit des Alltäglichen ausschließlich im Auge des Betrachters. Sie erschließt sich nur demjenigen, der gewillt ist, sie zu erfahren. Und der seine Aufmerksamkeit auf sie richtet.
Oft unternehmen wir viel, um Besonderes, Schönes und Atemberaubendes zu erleben. Doch dieser Morgen hat mir wieder einmal gezeigt, dass wir gar nicht weit reisen müssen, um solche Erfahrung zu machen. Wir müssen noch nicht einmal vor die Tür gehen.
Es genügt, wenn wir den inneren Schalter der Achtsamkeit umlegen und uns mit all unserer Aufmerksamkeit dem gegenwärtigen Moment zuwenden.
Dann ist alles wieder neu und wir staunen mit offenem Mund wie die Kinder über Dinge, die wir in der Hektik unseres Alltags für gewöhnlich nicht wahrnehmen. Und der Zauber des Alltäglichen entfaltet sich direkt vor unseren Augen.
Mehr über Achtsamkeit unter Die Schönheit der Stille – Wie Meditation dein Leben bereichern kann und Gewissheit gibt es nicht – Sorgen loslassen und im Jetzt ankommen und Vom richtigen Zeitpunkt – Wie du lernst, auf deine innere Stimme zu hören.
Foto: John Towner