Ich bin blind vor Wut, möchte wild um mich schlagen und dem Mann, der mir gerade entgegenkommt, meine geballte Faust mitten ins Gesicht hauen. Ich will laut schreien, mir die Wut aus dem Leib heraus brüllen und irgend etwas kaputt machen. In mir ist so eine gigantische Energie, dass ich viel Schaden anrichten könnte, wenn ich es zuließe.

Doch ich lasse es nicht zu und gehe still und leise nach Hause, lasse mich nur von der Musik anbrüllen, die aus meinen Kopfhörern dröhnt, und tue außer mir selbst niemandem weh.

Früher habe ich in solchen Momenten diese ungebändigte Energie exzessiv und wahllos ausgelebt. Ich habe sie gegen mich gerichtet und ihre zerstörerische Kraft an mir ausgelassen.

Ich habe Alkohol getrunken, bis ich innerlich ganz dumpf war, habe viel zu laute und aggressive Musik gehört, bis mir die Ohren weh taten und eine Zigarette nach der anderen geraucht, bis mein Hals schmerzte. Ich habe mich schlecht behandelt und vieles getan, was absolut nicht gut für mich war. Ich dachte, ich lasse die Wut dadurch raus, lebe sie aus und befreie mich so von ihr. Ich war hilflos und kannte keinen besseren Weg, mit diesem übermächtigen und schmerzhaften Gefühl in mir umzugehen, als Ablenkung und Selbstverletzung.

Dieser Umgang hatte jedoch nie zum endgültigen Verschwinden der Wut geführt. Im Gegenteil, sie kam immer wieder.

 

Der Wut ins Auge sehen – ein neuer Umgang

 

Eines Tages, als sie besonders wild in mir tobte und alles Nachdenken über den Auslöser nicht half, erkannte ich, dass ich mich ihr endlich stellen musste. Ich sah, dass Alkohol und aggressive Musik mich nur ablenken und an der Ursache der Wut nicht das geringste ändern würden.

Also setzte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben in Mitten des Sturmes hin, ohne jegliche Ablenkung und fing an zu meditieren. Ich schloss die Augen, beobachtete für eine Weile meinen Atem und konzentrierte mich dann voll und ganz auf das Toben in meinem Inneren.

Ich nahm die Wut einfach wahr, ich fühlte sie und all das, was sie in mir und mit mir machte. Ich nahm wahr, wo ich sie am deutlichsten in meinem Körper spüren konnte und wie sie sich anfühlte. Ich konzentrierte mich völlig auf die Empfindungen in mir. Und wenn meine Gedanken zum Auslöser des aktuellen Ausbruchs wanderten und sich in Vorwürfen, Anschuldigungen und Hass suhlen wollten, wendete ich meine Aufmerksamkeit immer wieder der reinen Wahrnehmung dessen zu, was sich jetzt gerade in mir abspielte.

Am Anfang war es grauenvoll, denn nun nahm ich das Hässliche und Schmerzhafte der Wut besonders klar und deutlich wahr. Doch ich spürte auch, wie sie sich unter meiner Aufmerksamkeit veränderte. Nicht sofort, es dauerte einen Moment. Doch irgendwann erkannte ich, dass der Sturm nachließ und die Intensität des Gefühls sich verringerte. So als ob sich ein roter Farbfleck, der sich in mir ausgedehnt hatte, allmählich zusammen ziehen und verblassen würde.

Ich hatte mich meiner Wut gestellt, mich ihr nackt und schutzlos ausgesetzt, sie wüten und toben lassen, bis sie all ihre Energie aufgebraucht hatte und dorthin zurückkehren konnte, wo sie hergekommen war. Nur wesentlich schwächer als zuvor.

Nach einer Weile war nichts mehr von ihr übrig und mein Inneres fühlte sich wieder ruhig und entspannt an. Und irgendwie geheilt. Ich war wieder frei und ein wunderbarer Frieden konnte sich in mir ausbreiten.

 

Alte Wunden

 

Wir alle machen im Laufe unseres Lebens Erfahrungen, die uns tiefe Wunden zufügen. Wenn diese nicht ausheilen dürfen, wenn wir dem Schmerz, der von ihnen ausgeht, nicht ausreichend Raum geben und ihn nicht vollständig verarbeiten, wandert er in unser Unterbewusstsein. Er löst sich durch das Verdrängen nicht auf, sondern zieht sich lediglich aus unserem Bewusstsein zurück. Wir sehen die Verletzungen nicht mehr, doch sie sind immer noch da.

Später, wenn wir die Ursache der Wunden vielleicht schon längst vergessen haben, machen sie sich über Umwege bemerkbar. Dann regen wir uns über das Verhalten eines anderen auf oder sind tief verletzt davon, ohne zu verstehen, dass es nur deshalb so viel mit uns macht, weil es uns an etwas erinnert, das wir schon einmal erlebt haben. Der alte Schmerz hat wieder seinen Weg in unser Bewusstsein gefunden.

Wenn wir wütend sind, liegt das meist nicht wirklich an dem aktuellen Ereignis, über das wir uns aufregen. Es ist lediglich der Auslöser für unsere Wut. Der wahre Ursprung liegt allerdings in unserer Vergangenheit.

Die Wut selbst ist nichts weiter als ein Weckruf. Sie will uns daran erinnern, dass wir immer noch alte Wunden in uns tragen, die bislang nicht heilen durften. Bei Traurigkeit, Angst und anderen starke Empfindungen, die uns belasten, ist es nicht anders.

 

Die Wut auflösen durch Achtsamkeit

 

Wollen wir nicht mehr unter unserer Wut leiden, müssen wir die Ursache beheben und unsere alten Wunden heilen. Achtsamkeit ist dabei so etwas wie ein Allheilmittel für seelische Wunden. Jedes Mal, wenn meine Wut mir die Existenz einer alten Verletzung aufzeigt und ich dieser mit meiner vollen Aufmerksamkeit begegne, kann sie heilen.

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Bei manchen Wunden ist es nicht mit einem Mal getan, sie tauchen immer wieder auf, benötigen unsere Aufmerksamkeit ein ums andere Mal. Doch jedes Mal, wenn wir uns unserer Wut bewusst zugewendet haben, verlässt sie uns ein wenig geschwächter und die Wunde konnte ein bisschen mehr heilen.

Wenn du das nächste Mal solch ein unangenehmes Gefühl in dir spürst, dann laufe nicht weg. Es ist nicht da, um dich zu quälen. Es bittet lediglich um deine Zuwendung. Versuche nicht, dich abzulenken, sondern setze dich hin und schließe deine Augen. Wende deine volle Aufmerksamkeit dem zu, was gerade in dir geschieht.

Am Anfang mag die Intensität des Gefühls erschreckend sein, du springst vielleicht sofort wieder auf und willst wegrennen. Setze dich dann einfach wieder hin und wende dich der Empfindung zu. Ohne sie zu beurteilen, ohne darüber nachzudenken und ohne sie weg haben zu wollen.

Wenn du merkst, dass dich deine Gedanken von der reinen Wahrnehmung deiner Empfindungen wegreißen und in Geschichten über das Erlebte verstricken wollen, komme mit deiner Aufmerksamkeit zu deinem Körper zurück. Und verurteile dich nicht für das Abschweifen, nimm es hin als das, was dein Verstand eben tut.

Dich deiner Wut zu stellen, mag sich anfühlen, als würdest du verbrennen, als würdest du an diesem Schmerz zugrunde gehen. Sei dir gewiss, wie heiß das Feuer in dir auch brennen mag, es wird dich nicht zerstören. Du wirst es überleben und am Ende wie der Phönix aus der Asche emporsteigen.

Es ist kein angenehmer Prozess. Und je größer die Wunde ist, die sich zeigt, desto schwieriger ist es, sich der Wut und dem Schmerz zu stellen. Desto größer ist der Wunsch, davor wegzulaufen und sich abzulenken. Doch es ist der einzige Weg, der nicht zu noch mehr Wunden und Zerstörung führt, sondern zu Heilung.

Es klingt im ersten Moment vielleicht widersinnig und unvernünftig, sich seiner Wut bewusst auszusetzen. Doch wenn wir uns von unserem Schmerz und unserem Leiden befreien wollen, geht kein Weg daran vorbei, sich ihnen zu stellen. Nur so können die alten Wunden wirklich heilen und wir werden Stück für Stück zu heileren und freieren Menschen.

 

Mehr dazu unter Die Schönheit der Stille – Wie Meditation dein Leben bereichern kann

Foto: Jilbert Ebrahimi

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